Als ich vor kurzem im Kitchentalk Podcast eingeladen war, um über das Thema Sexualität (Folge 19) zu sprechen, wurde ich gefragt, was ich über die Generation Beziehungsunfähig denke. Ich hörte diesen Ausdruck zum ersten Mal: GENERATION BEZIEHUNGSUNFÄHIG und durfte dazulernen, dass es um die junge Generation geht, welche immer weniger Interesse an monogamen Beziehungen hat und sich gerne in polyamourösen Beziehungskonzepten bewegt. Im Podcast sprechen wir über die Unterschiede monogamer und polygamer Beziehungen, ohne diese Konzepte zu validieren. Jedes Konzept hat seine Limitationen und Freiheiten – es lohnt sich, darüber mal zu reflektieren. Während die monogame Beziehung in alten Zeiten notwendig war, um das eigene Überleben zu sichern, indem man sich in Gender Rollenverteilung in der Mikrokosmos Welt Familie bewegte. Bevor diese Entwicklung durch die Industrialisierung ausgelöst in die Welt kam, lebten die Menschen in unterschiedlichen Formen der Sippengemeinschaft – mit mehr oder weniger mono- polygamen Versionen. Generationenübergreifend, gemeinschaftliche Rollenverteilung, naturorientiert und Einfachheit im Leben – die existenzielle Sicherheit wurde über die Gemeinschaft gesichert. Kinder wurden von der Gemeinschaft aufgezogen und altersgerecht in die Gemeinschaft eingeführt. Rituale und Traditionen entwickelten sich über die Jahreszeiten und Lebensübergänge.
Heutzutage ist in der westlichen Kultur oft keine materielle, genderspezifische Abhängigkeit vorhanden, die uns Menschen in monogame Beziehungen zwingt – vorausgesetzt, dass Ausbildung und Bildung zur Verfügung stehen. Diese «neue» vermeintliche Freiheit ist wohl der tragende Faktor, der Menschen die polygame Beziehungsform offen zu leben in der modernen Zeit erst ermöglicht.
Es stellt sich aber auch die Frage, welche emotionalen Beweggründe Menschen motiviert, monogam oder polygam zu leben. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir tiefer in die Bindungsentwicklung des Menschen eintauchen. Im Buch «Der Vagus Schlüssel zur Traumaheilung – Wie ehrliches Mitteilen das Nervensystem reguliert» von Gopal Klein finden wir wertvolle Informationen über die Bindungstheorie in Verbindung mit der Polyvagal Theorie (Vegetatives Nervensystem = uralten Betriebssystem im menschlichen Nervensystem). Nach dieser Literatur wird klar, dass es nicht eine GENERATION BEZIEHUNGSUNFÄHIG gibt sondern eine MENSCHHEIT BINDUNGSUNFÄHIG mit uralten sozialen Ängsten in Beziehung zu gehen und sich authentisch in Beziehung zu zeigen.
Kurz zusammengefasst: es ist ein natürliches Bindungsbedürfnis eines Menschen, sich in einer zwischenmenschlichen Beziehung einerseits autonom-frei – die Welt neugierig entdecken – und andererseits die Bedürfnisse nach emotionaler Geborgenheit und Nähe ausleben zu können. Die Bedürfnisse nach Autonomie und Nähe möchten in einem gesunden Gleichgewicht gelebt werden. Dann fühlen wir uns Menschen in einer Beziehung/Bindung sicher und frei.
Je nach Lebensumstände, Erziehung oder soziokultureller Prägung kommen in der Bindungsentwicklung die Bedürfnisse nach Autonomie oder Nähe zu kurz, so dass sich unterschiedliche Bindungsmuster entwickeln. So kann es sein, dass entweder auf Nähe oder auf Autonomie im Bindungsverhalten verzichtet wird. Der Verzicht auf Nähe löst aus, dass man sich in Bindungen eher eingeengt fühlt, Angst hat, die eigene Freiheit in Beziehungen zu verlieren und sich schwer tut, verbindliche Beziehungen einzugehen. Der Verzicht auf Autonomie löst aus, dass man seine Bedürfnisse auf Freiheit und Neugierde die Welt zu entdecken zurückhält, um die Bindung zu sichern. Beide Bindungsmuster lösen mit der Zeit ein Gefühl des Mangels aus. Etwas scheint zu fehlen – nämlich der Gegenpol. Autonomie und Nähe sind zwei Kehrseiten einer Medaille und gehören zusammen. Der eine kann nicht ohne den anderen und doch sind sie so verschieden. Wie können solch unterschiedliche Bedürfnisse -–einerseits nach Nähe und andererseits nach Abstand – in einer zwischenmenschlichen Beziehung gesund gelebt werden? Dabei spielt es keine Rolle, ob es eine Paarbeziehung, Freundschaft, Familienbeziehung oder berufliche Beziehung ist.
Da wir uns dieser zwischenmenschlichen Grundbedürfnisse nach Autonomie und Nähe nicht bewusst sind, haben wir als Menschen keine gute Kommunikation entwickelt. Wir haben keine Worte in uns, die unsere Bedürfnisse auf der Beziehungsebene wohlwollend zum Ausdruck bringen. Und wir haben auch keine Fähigkeit entwickelt, um solche Worte von der Person gegenüber wohlwollend anzunehmen. Erst wenn die Tatsache, dass wir Autonomie und Nähe in einer Beziehung brauchen, normalisiert wird und wir eine wohlwollende Kommunikation dafür finden, können wir eine gesunde Beziehungsfähigkeit entwickeln. Für die echte Nähe in einer Bindung, müssen die eigenen Bedürfnisse ehrlich kommuniziert und von der anderen Person angenommen werden. Für eine echte Autonomie in einer Beziehung braucht es Vertrauen in die Bindung, dass die andere Person in der Bindung bleibt. Um das Gleichgewicht zwischen Nähe und Autonomie zweier Personen zu balancieren, braucht es offene und ehrliche Kommunikation über die verschiedenen Bedürfnisse. Erst dann werden wir zu echten beziehungsfähigen Menschen. Ansonsten leben wir vielleicht in monogamen Beziehungen, doch sprechen wir nicht miteinander und leben unbewusste Bindungsmuster ODER wir verteilen uns auf polygame Beziehungen, um den eigenen Bindungsmuster auszuweichen. Irgendwie sind wir alle im gleichen Boot, wenn es um Beziehungen geht und wir haben als Menschheit ein grosses Lernpotential, uns auf der Beziehungsebene weiter zu entwickeln.
Januar 2025, Jaya B* Heinzmann